Samstagabend kurz nach neun. Ich bin auf dem Weg zum Kottbuser Tor. Dort möchte ich die kleine Schwester Anna und einige Leute treffen. Ich gehe die Adalbertstraße hinunter. Der Gehsteig ist knallvoll. Eine lange Warteschlange hat sich gebildet. Kein Durch-kommen. Wird was verschenkt? Ich komme nicht weiter. Deshalb wechsle ich die Straßenseite. So geht es schneller. Auf der Verkehrsinsel unter der U-Bahn-Trasse sehe ich schon von Weitem den weißen Transporter der Berliner Obdachlosenhilfe. Ehrenamtliche finden sich jeden Mittwoch und Samstag um 13.30 in den Räumen im Wedding ein um warme Mahlzeiten, Getränke und Obstsalat zuzubereiten und Hygieneartikel und Kleidung zu packen. Dann fahren sie los, erst zum Leopoldplatz, dann zum Alexanderplatz und schließlich zum letzten Halt Kottbuser Tor.
Drei Biertische sind schon für die Essensausgabe aufgebaut. Da es unter dem Kottbuser Tor nur einige Poller gibt, wird eine Biertischganitur für diejenigen aufgebaut, die nicht stehen können. Die Essensausgabe fängt gerade an. Es gibt zwei warme Gerichte, Salat, Obstsalat, oft auch Joghurt und warme Getränke. Die Ersten haben schon angefangen eine Schlange zu bilden. Ich schaue mich um. Anna ist noch nicht da. Ich sehe U. Sie ist Mitte siebzig, hat eine eigene Wohnung und lebt von Grundsicherung. Sie kommt regelmäßig her, weil es hinten und vorne nicht reicht. G., der immer wieder zu unserem Samstagsfrühstück kommt, ist auch da. Ich habe ihn schon Monate nicht gesehen. Er hatte den Winter über einen Platz in einer Notunterkunft. W. erzählt mir, daß er immer noch in seinem Zelt in der Hasenheide ist. Schon zehn Jahre lebt er da. Sein Zelt ist so gut getarnt, daß niemand es findet. Eine Notunterkunft kommt für ihn nicht in Frage. Jetzt ist er fünfzig. Zehn Jahre gibt er sich noch – hat er mir vor ein paar Wochen erzählt. Die Atmosphäre ist freundlich und entspannt. Manchmal wird es lauter wenn jemand von den Drogenabhängigen dazu kommt. Dann hat immer eine/r von den Mitarbeitenden Zeit für ein Gespräch. Anna kommt heute anscheinend nicht. Ich beschließe nach einiger Zeit und einigen Gesprächen wieder zurückzugehen, wähle gleich die andere Straßenseite von vorher.
Ich staune nicht schlecht. Inzwischen ist die Schlange noch länger geworden. Gegenüber vor dem Heimatmuseum Kreuzberg bleibe ich stehen, schaue mir das Treiben an. Es ist die „vegane Snackbar“ von Attila Hil.dmann vor der sich die Wochenend-Nachtschwärmer drängeln. Attila Hild.mann ist sowas wie der Papst der veganen Ernährung. 2012 wurde sein Kochbuch „Vegan for Fun“ Kochbuch des Jahres. Er vermarktet einen Lebensstil, ein Lebensgefühl über die unterschiedlichen Kanäle. Und hier stehen diejenigen in der Schlange, die sich das leisten wollen und können. Einer der veganen Burger kostet 5,50, die anderen liegen bei 6,90 Euro. Das kleine Softeis kostet 3,50 €. Neben mir steht plötzlich eine Frau aus unserer Nachbarschaft. Sie war bei einer Geburtstagsfeier und schaut auch verwundert auf das Drängeln und Treiben. Mein Blick fällt auf eine Tafel die draußen angebracht ist. „Vegan food porns“ lese ich. Ich fasse es nicht und frage sie, die viele Jahre im Ausland gelebt hat: „Steht da wirklich vegan food porns“? Ja .
Für diejenigen, die noch nichts von „food porn“ gehört haben: Im Internet führen Menschen Tagebücher (Blogs) zu ganz unterschiedlichen Themen. Da gibt es Berufsblogs (ein Kinderarzt bloggt aus seinem beruflichen Alltags), Modeblogs, Familienblogs, Politikblogs und viele andere Themen – so wie etwa dieses Blog, in dem unsere WG Thema ist. Eine große Bedeutung in der Bloggerszene haben Foodblogs, in denen es um das Zubereiten, Anrichten und Fotografieren von Gerichten geht. Die Extremform ist dann „Food porn“ (food = Essen, porn=Porno). Dabei werden Gerichte so inszeniert, daß sie superstylish rüberkommen unter anderem durch Verwendung von Haarspray und Rasierschaum. Letzterer ist „fotogener“ als Schlagsahne. Es gibt Workshops für Foodblogger, in denen man lernen kann, mit welchen Hilfsmitteln man Essen wie in Szene setzen kann. Dabei geht es dann gar nicht mehr darum, daß das Gericht tatsächlich verspeist wird. Nach der Verwendung von Haarspray, der einer Torte bestimmte Glanzeffekte verschafft, ist diese nicht mehr essbar. Bei Foodporn geht es um Selbstdarstellung über Essen, um Inszenierung und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe um Status. Inzwischen ist der Trend auch in der Gastronomie angekommen. ..
Wir stehen da und gucken. Ich schaue nach rechts – unter die Hochbahntrasse. Der weiße Transporter steht immer noch da. Zwei Schlangen, zwei Welten und achtzig Meter Luftlinie.
Zum Weiterlesen:
Aktivitäten der Berliner Obdachlosenhilfe