Vorgestern am späten Vormittag habe ich einige Erinnerungen an Werner (1954 – 2021) gepostet und war ganz perplex wie oft dieser Beitrag am gleichen Tag gelesen wurde. Es waren drei Mal soviel Aufrufe wie sonst an guten Tagen. Werner wäre über dieses Interesse an seiner Person sicher sehr erstaunt.
Jeden Dienstag treffen wir uns zu einen Gemeinschaftsabend (Kommunitätsabend), der mit einem gemeinsamen Essen beginnt. Danach erzählen wir uns in einer Austauschrunde, was uns in der vergangenen Woche bewegt hat und wichtig geworden ist. Durch die Beiträge einzelner, wie sie Werner erlebt haben, ist er uns an diesem Abend nochmal anders nahe gekommen und hat sich der Blick auf ihn erweitert. Später meinte jemand, es sei gewesen als ob Werner mit dabei war.
Werner war aus Westfalen und ist als Erwachsener nach Berlin gekommen. Nach der Wende gab es bei ihm einen beruflichen Abbruch wie bei vielen anderen. Mit der auslaufenden Berlinförderung fielen viele Arbeitsplätze weg, weil Unternehmen sich andere Standorte suchten oder nicht mehr halten konnten.
Werner arbeitete dann als Ein-Euro-Jobber im Hausmeisterbereich und in der Grünanlagen- und Gartenpflege in sozialen Projekten. So kam er nach Kreuzberg in die katholische Kirchengemeinde St. Marien-Liebfrauen und St. Michael. Für einige Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchengemeinde hat Schwester Ingrid von den Siessener Franziskanerinnen mehrmals wöchentlich einen Mittagstisch angeboten. Auch Werner hatte Teil an dieser Runde wenn er in Sankt Michael eingesetzt war. Über den Kontakt mit Schwester Ingrid entstand dann die Verbindung zu unserer WG zwei Straßen weiter.
Werner war immer in Bewegung, immer unterwegs, hatte immer zu tun. Nach den üblichen Maßstäben war er – materiell gesehen – arm. Er lebte von Grundsicherung und vom Flaschen sammeln. Er konnte sich unglaublich über ein Sonderangebot im Supermarkt freuen. Er war sehr bescheiden und brauchte für sich nur ganz wenig. „Ich gebe 90 Prozent weiter“ war sein Lebensmotto. Das Miteinander-Teilen war sein Herzensanliegen und daß nichts verschwendet wird.
So hatte er einen festen Kreis von Leuten in seiner Nachbarschaft in Neukölln, denen er abgelaufene Lebensmittel aus Geschäften und Supermärkten in seiner Umgebung brachte. Dort durfte er kurz vor Geschäftsschluß an der Rampe aussortieren, was er weiter verteilen wollte. Zwei- bis drei mal in der Woche – meist am späten Abend wenn er die erste Runde Flaschen sammeln hinter sich gebracht hatte – kam er dann bei uns vorbei zum Abendessen und mit mehreren Kisten voller Lebensmittel. Am Samstagabend betonte er immer: „Was ihr nicht braucht, das nehmt ihr morgen in die Kirche mit“. Er wußte vom Sonntagsfrühstück in St. Michael nach der Messe und wollte auch dort einen Beitrag leisten.
Da wir von einer Bäckerei mehr Brötchen und Backwaren bekommen als wir verbrauchen können, nahm er dann trockenes Brot mit für „die Tiere“, das er dann zu einem Kinderbauernhof brachte.
Seit seine Lebensgefährtin Ingrid verstorben war, mit der er dreißig Jahre zusammen war, war der Friedhof mit ihrem Grab eine wichtige Anlaufstelle für ihn geworden. Er kümmerte sich auch um die benachbarten Gräber („die Blumen dort haben auch Durst“) und nahm auf eigene Faust einige gärtnerische Eingriffe in die Friedhofslandschaft vor (Bank versetzen, Büsche beschneiden…). Als ich ihn fragte, was denn die Friedhofsmitarbeiter zu seinen – unabgesprochenen – Aktivitäten meinten, machte er eine wegwerfende Handbewegung und sagte: „Die sind doch froh wenn jemand was tut. Die haben doch immer weniger Zeit“.
Er hatte ein weites Herz. Sehr interessiert und wach hat der das politische Geschehen verfolgt und kommentiert. Werner war einer, der sich gekümmert hat. Im Lazarus-Hospiz durfte er in seiner letzten Lebensphase erleben, daß sich um ihn gekümmert wird. Er fehlt uns: Kein Hallö-öchen und kein Tschau-i-i mehr.
Zum Weiterlesen:
Tschau-i-i Werner
Voll die Härte für Arme: Zwei Monate mit 31 Tagen
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