Das Rezept der Naunynstraße

Für den Gedenkgottesdienst an die verstorbenen Jesuiten, Bewohner und Freunde der WG, den wir gestern am 2. Februar gefeiert haben, hat der Chefkoch einen Text verfasst mit Bildern aus der kulinarischen Welt: 

Festessen vom Chefkoch

Als Koch sehe ich viele Ähnlichkeiten zwischen einem Essgericht und der Naunyn-WG. Was braucht es, damit ein Gericht und das Gemeinschaftsleben am Ende gut schmeckt?


Zunächst einmal ein Rezept. Da hatten sich Christian Herwartz, Franz Keller und Michael Walzer ein ganz besonderes herausgesucht, das aber schon viele vor ihnen erfolgreich ausprobiert hatten: wie Jesus zu den Armen gehen und mit ihnen auf Augenhöhe zusammenleben, in ihnen Brüder und Schwestern suchen.

Zu einem Menü gehören außerdem Sättigungsbeilagen, um den Magen zu füllen, z. B. Reis. Für die drei Jesuiten hieß das, dass sie wie ganz normale Menschen arbeiten gegangen sind, um sich etwas zu essen zu verdienen.

Das Würzen war die Spezialität von Christian Herwartz: Mit seinen Initiativen, Gesprächs-impulsen und Fragen hat er den besonderen Geschmack der vielen Mitbewohner und Gäste hier oft erst richtig zu Geltung gebracht.

Dabei ist das unscheinbarste Gewürz zugleich das wichtigste: das Salz der Liebe, das sich mit allen verbindet und alle stärkt. Für mich persönlich war das in ganz besonderem Maße Franz Keller.

Noch heute prägt das Miteinander dieser drei Gründer Michael Walzer, Christian Herwartz und Franz Keller den Alltag unserer Gemeinschaft, denn sie waren „das Salz der Erde“ wie es in der Bergpredigt im Neuen Testament heißt.

Und dann gilt natürlich auch, dass es einen Chefkoch braucht, auf den alle hören. Denn viele Köche verderben ja bekanntlich den Brei. Dieser Chefkoch hieß für alle drei Jesus Christus, der barmherzige, gütige Gott, auf den sie immer wieder neu gemeinsam und im persönlichen Gebet zu hören versucht haben.

So habe auch ich in der „Naunyn-Küche“ neu zum Glauben gefunden.

xxx

xxx

Weihnachten orthodox: eine besondere Begegnung

Seit wir einen griechisch-orthodoxen Mitbewohner haben, feiern wir Weihnachten, Ostern und den Nikolaustag (6. und 19. Dezember) zwei Mal. Die meisten orthodoxen Christen feiern Weihnachten nach dem julianischen Kalender, also am 6. Januar. Und so haben hatten wir am Samstag beim offenen Samstagsfrühstück Besuch von den Sternsingern und abends nochmal Weihnachten mit einem besonderen Essen gewürdigt. Der Chefkoch hat eine neue Variante Khachapuri erfunden und zwar mit Oliven und türkischem Feta (auf dem Foto in Schmetterlingsform).

vorne: Salatplatte und dahinter Khachapuri mit Oliven

Am Nachmittag hat unser Mitbewohner von einer besonderen Begegnung erzählt. Am Vormittag ist er mit einer Kerze zur (evangelischen) Thomaskirche in unserer Nachbarschaft gegangen. Er ging davon aus, daß – wie in seiner Heimat – Kirchen den ganzen Tag geöffnet sind.

Kurz bevor er dort ankommt, sieht er vor den Treppen, die zum Kircheneingang führen, einen jüngeren Mann und eine jüngere Frau stehen – beide etwa 30 Jahre alt. Er hört die beiden russisch sprechen und nimmt mit ihnen Kontakt auf. Die beiden sind Russen. Das Land des Mitbewohners ist vor 15 Jahren von Russland angegriffen worden. Er hat in diesem Krieg eine lebensgefährliche Schußverletzung erlitten, an deren Folgen er bis heute leidet.

Der jüngere Mann heißt Igor und seine Schwester Lena. Sie sind noch nicht lange in Berlin. Weil sie nicht wissen, wo in Berlin eine russisch-orthodoxe Kirche ist, sind auch sie gekommen um eine Kerze anzuzünden.

Der Mitbewohner kann ihnen sagen, wo eine russisch-orthodoxe Kirche ist. Igor erzählt, daß er seinen Einberufungsbescheid bekommen hat. Er will nicht in den Krieg. Er will nicht auf Menschen schießen. Deshalb ist er mit seiner Schwester nach Moldawien geflüchtet und von dort aus nach Berlin.

Der Mitbewohner erzählt seine Geschichte. Igor sagt: „Tut mir sehr leid, was dir passiert ist.“ Alle drei stellen ihre Kerzen auf der Treppe ab, zünden sie an, wünschen sich Frieden, und reichen sich die Hand.. 

xxx

xxx

Ohne Handy unterwegs

Ein ehemaliger Mitbewohner kommt zu Besuch. Er hat kein Mobiltelefon, und er möchte auch keines. So weit es ihm möglich ist, möchte er Strahlungen vermeiden. Es wird immer schwieriger im öffentlichen Raum Telefonzellen zu finden die keine Telefonzellen mehr sind sondern Telefonsäulen. Die sozialen Einrichtungen, in denen er das Telefon nutzen darf, öffnen erst um 14.00 Uhr. Er muß aber in einer bestimmten Stelle, die ihm in Wohnungsangelegenheiten weiterhelfen will, noch vor 12.00 Uhr anrufen.

Früher mußte ein Telefonat nur bezahlt werden, wenn der Angerufene ans Telefon ging.  Heute kostet jeder Wählversuch auch wenn belegt ist oder das Freizeichen ertönt. Die Post   Telekom stellt ja die Leitung zur Verfügung. Für Menschen mit wenig Geld und begrenztem Zugang zum Telefon eine schwierige Situation. 

Heute hat unser ehemaliger Mitbewohner die Sachbearbeiterin nicht erreicht. Er soll sich Anfang nächster Woche wieder melden.

xxx

xxx

Analoger und digitaler Nachlass von Christian Herwartz (SJ)

Christian hat drei Lesebücher / Textsammlungen herausgegeben, in denen BewohnerINNEN, Ex-BewohnerINNen, Freunde und Freundinnen sowie Weggefährten unserer Gemeinschaft zu Wort kommen. Zwei Titel sind noch erhältlich. Sie können bei uns in der WG abgeholt werden, liegen in Sankt Michael aus oder werden gegen Portokostenerstattung verschickt (außerhalb Berlins).

Cover


Geschwister erleben wurde 2010 von Christian Herwartz und Renate Trobitzsch herausgegeben. Anlaß war der 85. Geburtstag von Franz Keller, sein 60jähriges Ordensjubiläum und 30 Jahre in der Kommunität Kreuzberg in der Naunynstraße. Menschen in der Gemeinschaft und im Umfeld unserer WG – nah und fern – wurden eingeladen, sich durch Texte oder Bilder zu verschiedenen Themenbereichen einzubringen. Das Buch umfaßt 343 Seiten.


Folgende Schwerpunkte werden in den einzelnen Kapiteln aufgegriffen. 

  • Pilgern, Lebensentscheidungen, Exerzitien
  • Geschwister überall entdecken
  • Voll-, Teilzeit, Nichtbeschäftigung
  • Beziehungen zwischen Generationen, Machtmißbrauch
  • Mauern in und um Europa überwinden
  • Frieden, interreligiöses Gebet

Cover


Das Einfach-ohne-Buch hat Christian Herwartz zusammen mit Nadine Sylla 2016 herausgegeben. Auch hier tragen zahlreiche BewohnerINNen, Ex-BewohnerINNen und Weggefährtinnen zu unterschiedlichen Themenbereichen Texte, Bilder und Fotos bei. Rock’n Rollf (Rolf Kutschera) hat die einzelnen Kapitel-überschriften illustriert und das Cover gezeichnet. (288 Seiten)

 

Inhalt.

  • Einfach ohne Kolonialismus
  • Einfach ohne
  • Einfach ohne Vorgaben
  • Einfach ohne Schuhe
  • Einfach ohne Fragerei
  • Einfach offen
  • Einfach Mensch sein
  • Einfach in Fülle
  • Einfach gemeinsam
  • Einfach freiwerden
  • Einfach mit Solidarität
  • Einfach mit Hoffnung
  • Einfach mit Frieden
  • Einfach mit Geschichte
  • Einfach mit Zukunft

Christian hat zu den unterschiedlichen Themen, die ihm wichtig waren, Websites erstellt. Hier in der Wohngemeinschaft hat er die Exerzitien auf der Straße entdeckt. Die Seite wird schon seit einiger Zeit von Menschen aus der Gruppe der Begleiterinnen und Begleiter weitergeführt. 

Die jüngste Seite widmet sich den Arbeitergeschwistern und ihren Aktivitäten. Er schreibt dazu: „Mit dieser jüngsten Webseite laden wir interessierte Jüngere und Ältere ein, an unserem Weg eines gelebten Perspektivwechsels teil zu nehmen, einem politischen Schritt zur Menschwerdung aller. Unter uns finden sich Christen mit verschiedenen religiösen Traditionen und unterschiedlichem Engagement – darunter sind katholische Arbeiter-Priester, evangelische Arbeiter-Pfarrer*innen und besonders auch Engagierte ohne kirchliche Ämter.
Dokumente aus ihre solidarischen internationalen/interkonfessionellen Geschichte seit Anfang 1940 und aktuelle Fragestellungen werden greifbarer und sollen alle manuell arbeitenden Frauen und Männern verbinden, die sich für eine gerechtere, offene Gesellschaft engagieren. Das Thema des letzten europäischen Treffens in Essen 2017:
Prekarität und politischer Rechtsruck.“

Viele Jahre hat er im Flughafenverfahren dafür gekämpft, dass Mahnwachen vor dem Abschiebegefängnis (heute „Flughafengewahrsam“ stattfinden dürfen – bis hin zum Bundesverfassungsgericht, das ihm Recht gab. Er schreibt:

„Das Engagement für eine weitherzige Gastfreundschaft. Mit der langen Geschichte der „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ in Berlin mit ihren Mahnwachen vor dem Abschiebegefängnis in Berlin-Köpenick, dem Widerstand gegen das Verbot der Mahnwachen vor dem neuen Abschiebegefängnis auf dem Flughafen Schönefeld und der gerichtlichen Klärung vor dem Bundesgericht, das entschied:
Straßen sind  auch in umzäunten Gebieten Straßen, also Orte öffentlich geschützte Meinungsäußerung. Nebenbei das Gericht sagte in der öffentlichen Verhandlung:
Straßen können auch die Gänge in Kaufhäusern sein.“

In unheilige Macht schuf er einen Austauschort zum Themenbereich „der Jesuitenorden und die Mißbrauchskrise“. Dazu erschien das gleichnamige Buch. Er schreibt dazu: 

„Diese Internetseite wurde im November 2012 als interaktiver Blog eingerichtet und nun in eine Webseite umgewandelt. Die Auseinandersetzungen der letzten fünf Monate sind weiter nachzulesen…“

Auch dieses Weblog über die Wohngemeinschaft in der Naunynstraße, gehört zu seinem Erbe.

Nachtrag:

 Das Buch „Gastfreundschaft – 25 Jahre Wohngemeinschaft Naunynstraße“ ist nicht mehr erhältlich. Der Inhalt steht komplett online auf Christians Blog „nackte Sohlen“ und zwar hier. Wir sind immer wieder entsetzt erstaunt, zu welch astronomischen Preisen es im Internet angeboten wird. Es war – wie alle von Christian herausgegebenen Büchern umsonst erhältlich, wurde verschenkt und wer wollte konnte eine Spende zu den Druckkosten geben. 

xxx

Nahe Ferne – Ukraine

Ein Mitbewohner hat einige Jahre als Gastarbeiter in der Ukraine gelebt. Er versteht die Sprache, hat Kontakt zu Freunden dort und immer wieder von dort erzählt. Von N., einer alten Frau, bei der er ein Zimmer hatte. Wie entsetzt sie war als er nach einem Frühstück Brotkrümmel zusammenschob, etwa einen Teelöffel voll und sie wegwerfen wollte. „Weißt du“, sagt er zu mir „sie hat als Kind Blockade von Leningrad überlebt und sagt zu mir: damals den ganzen Tag oft nur so eine kleine Löffel Krümmel zu essen gehabt“.

Schon im Februar war seine Prognose, wenn es einen Überfall auf die Ukraine geben wird, dann wird dieser noch im Februar stattfinden: „Im Februar kalt, weil Winter. Alles gefroren. Panzer kommen vorwärts. Im März wärmer, dann Matsch. Schwer für Panzer.“ Ein anderer Bewohner widerspricht ihm. Es wird keinen russischen Einmarsch geben. Der ehemalige  Gastarbeiter sollte recht behalten. Gestern hat er erfahren, dass ein Freund verletzt ist und die Hand amputiert werden mußte.

xxx

Schneckenpost 2021

Heute hat der Medizindienstleister die am 4. Januar von der Hausärztin ausgestellte Verordnung für unseren pflegebedürftigen Mitbewohner über Inkontinenzmaterial (Windeln) erhalten – nach drei Wochen und einem Tag und mehreren telefonischen Nachfragen jede Woche – im Zeitalter von Fax, eMail und neuen Medien. Gratulation zu diesem Arbeitstempo.

Mehr zur Situation, die wir seit einigen Wochen durchleben, steht hier.

xxx

Gefunden … Fotos von Bine und Nadine Eggert

Nachdem wir Anfang der Woche die Ausräumaktion abgeschlossen haben, waren wir ziemlich geschafft. Viele zurückgelassene Kisten, Koffer und andere Behältnisse von ehemaligen Mitbewohnern waren jahre- ja teilweise jahrzehntelang nicht abgeholt worden. Auch verschiedene vermisste Gegenstände haben sich wiedergefunden: Bücher, ein Radio-CD-Player, Fotoalben (Priesterweihe von Christian), unsere Advents- und Weihnachtsliederhefte vom letzten Jahr, diverse Haushaltsgegenstände und Fotos von Sabine (Bine) und Nadine Eggert. Einige Fotos hatten wir schon – andere sind jetzt noch gefunden worden.

Nadine Eggert

Dahinter steckt folgende Geschichte Sabine (genannt Bine) wohnte in Kreuzberg und hatte sechs Jahre lang Kontakt zur WG. Sie war chronisch krank. Deshalb ist ihre kleine Tochter Nadine bei Sabines Eltern aufgewachsen. Sabine hat sich gewünscht, bei uns in der Wohnge-meinschaft sterben zu dürfen. Dieser Wunsch konnte ihr erfüllt werden. So ist es dann auch geschehen. Bine (geb. am 17.09.1962) ist am 5. Juni 1996 in der Naunynstraße verstorben. Ihre Tochter Nadine war damals fünf Jahre alt. Der Kontakt von Nadine zu ihrer Mutter war sehr selten. Vielleicht erinnert sie sich noch an den Kater Tarzan.  Wir würden Nadine, die heute 29 Jahre alt ist, gern die Fotos geben. Allerdings haben die bisherigen Versuche Nadine zu finden keinen Erfolg gehabt (telefonbuch.de, Kontaktaufnahme über Fxxxbook mit den Frauen dieses Namens…). Es gibt noch einige Menschen, die Bine erlebt haben und von ihr erzählen können.

Nun unsere Bitte an diejenigen, die hier mitlesen und in sozialen Netzwerken unterwegs sind. Wir würden uns freuen, wenn Ihr diesen Blogeintrag teilen würdet. Vielleicht finden wir Nadine auf diese Weise.

Zum Weiterlesen:
Ausgeräumt …
Mehr von (ehemaligen) Mitbewohner*innen
Neugestaltung unserer Wohnzimmer-Gedenkwand
weitere Nachrufe auf Ex-Bewohner*innen und Freunde unserer WG

xxx

Einmalig: Am 8.8. – 88 Jahre

„Ich feiere nicht, aber Ihr könnt machen, was Ihr wollt“ – so tönte es uns in den letzten Jahren entgegen, wenn es um den Geburtstag unseres ältesten Mitbewohners, Bruder Christian Schmidt, ging. Aber dieses Jahr war alles anders. Dieses Jahr wollte er feiern, denn eine solche Schnapszahl kann man nicht an sich vorübergehen lassen. Am 8.8. 88 Jahre alt werden – das passiert nur einmal. Und dann kommt die Acht gleich vier mal vor: Sein Geburtsjahr 1932. So feierten wir mit einem leckeren und ausgiebigen Samstagsfrühstück mit vielen Gästen – coronakonform – und mit noch mehr Anrufen und Briefen. Am Sonntag gab es dann mit besonderen Freunden von Christian und Mitbewohnern ein Geburtstags-kaffeetrinken mit einem Orangen-Mango-Sahne-Herz, einer Beerensahne-Torte und afrikanischen Märchen. Diese Woche wird das Feiern fortgesetzt.

Zum Weiterlesen:
85 Jahre
Noch mehr Feste und Feiern

 

xx

Markenzeichen für unsere Gemeinschaft

Ein Mitbewohner, der seit fast einem Jahr mit uns zusammenlebt, hat sich Gedanken über ein Markenzeichen, über ein Signet für unsere Gemeinschaft gemacht, so wie er sie sieht und erlebt. Er ist Agnostiker. In der religiösen Tradition, in der er aufgewachsen ist – erzählt er – steht die Farbe grün für Liebe, Leben, Paradies und Auferstehung:

 

xxx

Begriffe und Bedeutungen

Immer wieder entdecken wir, wie unterschiedlich wir Begriffe verwenden und welche unterschiedlichen Bedeutungen und Konzepte wir damit verbinden. Unsere Frühstücksgespräche sind ein bevorzugter Ort dafür.

Im Französischunterricht der 1970iger Jahre in der alten BRD wurde unter dem Begriff der Magreb-‚Staaten Marokko, Algerien und Tunesien subsumiert. Plötzlich kommt es zu einem Perspektivwechsel, denn Mitbewohner Herr Marokko widerspricht. Al-Maghrib sei die Selbstbezeichnung seines Landes. In einem weiteren Sinn würden auch die Länder Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen und Mauretanien als Magreb bezeichnet. Diese bilden auch eine Union, die politisch, wirtschaftlich und kulturell zusammenarbeitet (Union des arabischen Magreb).

So haben wir durch die internationale Zusammensetzung unserer Gemeinschaft immer wieder die Chance, unsere Wahrnehmung zu erweitern und dazuzulernen.

 

xxx