Am 5. des Monats ruft die Nachbarbloggerin immer zum Tagebuchbloggen auf unter dem Motto „WMDEDGT?“ (kurz und knackig für „Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?“). Manchmal melde ich mich auch hier im Blog zu Wort und dieses Mal habe ich einiges zu erzählen.
Ich bin der Tisch von der Wohngemeinschaft Naunynstraße mitten in Kreuzberg im ehemaligen SO 36.
Der Tag begann ganz gemächlich mit einem Frühstück in kleiner Runde um 8.00 Uhr. Eines der Themen war das Kunst- und Kulturfestival auf dem Oranienplatz in unserer Nachbarschaft vom 5. bis 8. Oktober. Am Donnerstag wird Angela Davis kommen und eine Rede halten. Einige von der WG wollen hingehen. Auf der Website heißt es:
O-Platz wird 10 – Baustelle Migration
Vor 10 Jahren wurde der Oranienplatz und die Gerhart-Hauptmann-Schule von einer Geflüchteten-Bewegung besetzt. Wir, International Women* Space, haben uns aus dieser Bewegung gegründet und wollen das gemeinsam mit euch feiern! Denn ihr seid wichtiger Bestandteil dieser Bewegung und habt großen Anteil, dass Aktivistinnen, Geflüchteten, Migrantinnen, Gruppen und Einzelpersonen gemeinsam Widerstand leisten konnten. Wir wollen erneut alte Mitstreiter*innen zusammenbringen und neue Menschen mobilisieren, um uns gemeinsam an die Kämpfe geflüchteter Personen zu erinnern und unser Bestehen zu zelebrieren. Um reale Veränderung herbeizuführen, benötigt es zudem Zukunftsperspektiven, denen wir kollektivistisch nachgehen werden.
Mit dem Überfall auf die Ukraine kamen hunderttausende Menschen nach Deutschland und wir konnten sehen: Es ist sehr wohl möglich, mühsame bürokratische Prozesse zu umgehen und Menschen den Schutz anzubieten, den sie brauchen. Wir wissen aber auch, dass dieser Schutz nicht allen Geflüchteten eingeräumt wird. Umso wichtiger ist es, am 10-jährigen Jubiläum der Besetzung des O-Platzes daran zu erinnern, dass der daraus entstandene Widerstand immer noch lebt und weiterhin in die Öffentlichkeit getragen werden muss!
Auf der Verkehrsinsel des Oranienplatzes steht ein Riesenplakat: „Stoppt Deportation“. Als ich das hörte, wurde ich an, Christian erinnert, den Gründer der WG, der vor Corona jedes Jahr am 3. Oktober und am Karfreitag eine Mahnwache vor dem Abschiebegefängis mit den „Ordensleuten gegen Ausgrenzung“ und anderen Interessierten und Aktivisten organisiert hat – erst in Grünau, dann wurde der Abschiebeknast zum Flughafen Schönefeld verlegt. Dort wollten die Betreiber (das Land Berlin, das Land Brandenburg und der Bund) die Mahnwache verbieten mit der Begründung, das sei Privatgelände. Christian hat sich durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht durchgeklagt und dort Recht bekommen. Das Gelände vor dem Abschiebegefängnis ist kein Privatgelände, sondern öffentlicher Raum. Heute heißt das nicht mehr „Abschiebegefängnis“. Die neue Sprachregelung lautet „Flughafengewahrsam„.
Nach dem Frühstück ist ein Bewohner losgegangen und hat viel von dem Brot, das wir gestern wieder von der Bäckerei bekommen haben, zum Mittwochscafe von St. Marien-Liebfrauen gebracht. Dort bereiten Ehrenamtliche belegte Brote, Kuchen und Obstsalat vor. Inzwischen dürfen die BesucherINNEN wieder in den Gemeindesaal und können sich dort hinsetzen, essen, trinken und miteinander ins Gespräch kommen. Hoffentlich geht das noch recht lange, denn seit Corona-Beginn durften nur noch Lebensmittelpäckchen ausgegeben werden.
In der WG haben sich am späten Vormittag noch zwei an mir zusammengefunden und ausgeblasene Eier gestaltet. Im Hof von St. Marien-Liebfrauen steht ein wunderschöner Brunnen. Der soll im nächsten Jahr ein Osterbrunnen werden, eine Tradition in Teilen von Franken. Dafür sind einige kreative Talente aktiv. Inzwischen sind schon 130 Eier in unterschiedlichen Techniken fertig. Sie müssen nur noch mit Lack fixiert werden. Hier die neusten Exemplare:

Eier für den Osterbrunnen
Mittags nach der Orgelandacht in St. Thomas kamen Susanne und Reinhard vorbei und es gab Reispfanne mit Gemüse – den Rest vom Gemeinschaftsabend gestern.
Der Nachmittag war ganz ruhig. Alle waren unterwegs. Ich konnte mal durchschnaufen Im Moment ist feiertagsmäßig ganz schön viel los. Am Sonntag war Erntedankfest, am Montag Tag der deutschen Einheit, am Dienstag Namenstag von Franz von Assisi und damit auch von einem Mitbewohner. Heute war höchster jüdischer Feiertag: Jom Kippur (Versöhnungstag) und am Sonntagabend geht es dann mit dem Laubhüttenfest weiter. Von seinen Ursprüngen her ist das Laubhüttenfest ein Erntedankfest.
Auch dieses Jahr am letzten Sonntag haben wir von der SELK-Gemeinde (selbständige evangelisch-lutherische Kirche) in unserer Nachbarschaft wieder Gaben zum Erntedank geschenkt bekommen – und auch von Sankt Michael. Alles wurde malerisch auf mir drapiert fürs Blog-Foto. Voilà:

Erntedank-Tisch 2022
Am frühen Abend kam dann noch Alain vorbei. Er hat letzten Samstag mit einem Mitbewohner die Tischplatte abgeschliffen, mit der ich immer fürs Samstagsfrühstück verlängert werde. Die muß jetzt noch eingelassen werden. Dafür wurden noch ein paar Details abgesprochen.
Danach gab es für die Anwesenden – wieder kleine Runde – einen leckeren Nudelauflauf mit Gemüse.
Kurz vor sieben ging M. zur Bäckerei und holte dort die übrig gebliebenen Backwaren. Zwei verpackten die belegten Baguettes in kleinere Tüten und brachten sie einer Gruppe von Wohnungslosen, die sich am Oranienplatz zusammenfindet. Gegenüber, wo das Kulturfestival stattfindet, war schon ein Open Air Konzert.
Wir wunderten uns, daß unser Mitbewohner H. noch nicht zuhause war. Später sollten wir erfahren, daß er ins Krankenhaus gebracht worden ist.
Kurz nach neun Uhr brachte ein Mitbewohner die Backwaren, die für uns zu viel sind, zum Kottbuser Tor. Auf der Verkehrsinsel unter der Hochbahn gibt es immer am Mittwoch- und am Samstagabend eine Essensausgabe der Berliner Obdachlosenhilfe. Die freuen sich immer sehr, wenn wir etwas vorbeibringen. Es ist unglaublich, wieviel Brot abends in der Bäckerei übrig bleibt, weil der Anspruch besteht, daß bis kurz vor Geschäftsschluß alles verfügbar sein muß.
Zum Weiterlesen:
Laubhüttenfest in Zeiten von Corona oder von der Verletzlichkeit unseres Lebens
Von der Essensausgabe der Berliner Obdachlosenhilfe und vom Hippster-Imbiß:
Zwei Schlangen, zwei Welten und nur 80 Meter Luftlinie
Radiobeitrag (vier Minuten) beim Deutschlandradio über unser Samstagsfrühstück
Mehr Tagebuch-Bllogger-Einträge von ‚wmdedgT gibt es bei Frau Brüllen und zwar
hier (nach unten durchscrollen)
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