Exerzitien auf der Strasse – Leben mit Strassenkontakt

Exerzitien auf der Straße – Leben mit Straßenkontakt

Im 2. Weltkrieg arbeiteten Priester und Theologiestudenten aus
Frankreich in Deutschland und Österreich unerkannt in der Industrie, um
ihren verschleppten Landsleuten in der bedrohlichen Fremde nahe zu sein.
Manche von ihnen fanden sich im KZ Dachau wieder, wenn sie den
Verantwortlichen als Seelsorger auffielen. Auch nach dem Krieg zurück in
der Heimat wurden sie misstrauisch beobachtet, wenn sie zusammen mit
ihren Kolleginnen für ihre Würde am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft
eintraten. Einige Arbeitgeber und konservative Kirchenkreise bewirkten
Anfang der 50er Jahre beim Papst das Verbot der Arbeiterpriester, die es
nun schon in mehreren Ländern Europas gab. Zehn Jahre später
unterstützte das Konzil wiederum ausdrücklich dieses christliche
Engagement, das unterdessen in anderen Kirchen Nachahmung gefunden
hatte. Dem solidarische Weg Jesu konnte nun von vielen katholischen
Priestern in oft entfremdender manueller Arbeit, in Gewerkschaften und
in Arbeitervierteln lebendig nachgespürt werden. Sie entdeckten mitten
in Notlagen zusammen mit Menschen, die ihnen vorher fremd waren, den
alltäglichen Weg der Menschwerdung Gottes.

1978 schlossen sich einige Jesuiten nach einer Lehrzeit in Frankreich
diesem auch im Orden unterstützten Weg der Solidarität an. Sie fanden
Arbeit in der Elektroindustrie Berlins und eine Wohnung im damals von
Abriss bedrohten Teil Kreuzbergs.

Hier ermöglichten ihre Erfahrungen im Jahr 2000 mit Geistliche Übungen
auf der Straße zu beginnen. Die Jesuiten lebten wie die Kleinen Brüder
und Kleinen Schwestern, die Arbeiterpriester und andere – also in
Deutschland die Arbeitergeschwister – am Arbeitsplatz und im Stadteil
mit dem Wunsch, auf die Freundschaft von Jesus heute zu antworten.
Worauf will mich der auferstandene Christus neugierig machen und mir
mitten in der Stadt begegnen? Mit dieser Frage gehen die Übenden in
ihren Exerzitien auf die Straße.

Die Gegenwart der Liebe Gottes

Eine Hilfe bei der spirituellen Suche ist die Geschichte von Mose, wie
sie in der Bibel (Ex 3,1-14 und Apg 7,20-35) berichtet wird. Dieser
Hirte ließ sich ganz unprofessionell über die Steppe, wo die ihm
anvertrauten Tiere Futter und Wasser fanden, in die Wüste locken. Dort
sah er einen brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch.
Überraschend bemerkt er in ihm die Gegenwart der unbegrenzt brennenden
Liebe Gottes. Sie will uns mit ihrer solidarischen Kraft von
Unterdrückung und Angst befreien.

Die Übenden lassen sich von der Anwesenheit Gottes in ihnen führen und
finden in überraschenden Begegnungen mit der Natur, mit der Geschichte,
mit einzelnen Menschen auf der Straße ihre heiligen Orte des Begreifens,
der Achtung und Veränderung. Wie Mose ziehen sie aus Ehrfurcht ihre
schützenden Schuhe des Herzens aus, stehen auf nackten Sohlen gewaltlos
in der Realität dieses Ortes und hören hier oder entdecken erst abends
beim Erzählen in der Exerzitiengruppe, was ihnen der Lebenspendende
sagen will. Auch Jesus fordert die Jünger vor ihrer Aussendung auf, ihre
Schuhe auszuziehen (Lk 10,4), und er macht sich selbst unter ihnen
berührbar und verletzlich. Er legt sein Gewand ab und wäscht ihnen die
Füße (Jo 13,4). Am nächsten Tag sehen wir ihn bei der Folter durch die
Soldaten in einem Dornbusch, den uns Johannes als (Königs)Krone
beschreibt (Jo 19,2).

Die Übenden gehen ihren häufig beiseite gedrängten Schmerzen mit dem
Wunsch auf Heilung nach. Sie gehen an Orte, die sie sonst eher meiden,
deren Impuls sie bisher nicht bemerkt haben, oder sie suchen die
Wegabschnitte in ihrem Leben, die in ihnen voller Liebe brennen wollen.

Die Straße Gottes entdecken

Die Exerzitien auf der Straße stehen allen Christen, Abseits-stehenden
oder Andersgläubigen offen. Vorkenntnisse oder besondere psychische
Stabilität wird nicht vorausgesetzt. Ebenso wenig wird erwartet, die
Tage zu schweigen. Die persönliche Sehnsucht der Teilnehmenden führt zu
mehr Aufmerksamkeit und befähigt zum interessierten Hören.

Untergebracht sind die Übenden in einfachen Quartieren. Sie werden oft
von Gemeinden gestellt und dienen häufig im Winter als Notunterkünfte
für obdachlose Menschen. Eine Frau und ein Mann mit eigenen Erfahrungen
auf der Straße begleiten unentgeltlich eine kleine Gruppen von bis zu
fünf Übenden. Ignatius von Loyola ist uns mit seiner Suche auf den
Straßen in Manresa vorausgegangen, Gott überall anwesend zu wissen und
ihm dort zu begegnen, wo er uns auf seiner Straße, die Jesus ist (Jo
14,6), entgegenkommen will. Diese Straße Gottes auch in uns selbst zu
entdecken, uns auf ihr führen zu lassen und Jesus in Gefangenen,
Obdachlosen, Kranken zu begegnen ist die Freudenquelle in Exerzitien und
im alltäglichen Leben.

Mit der Erfahrung der Ausgrenzung am Arbeitsplatz und dem ermutigenden
Erfahrungen in unserer Kommunität laden wir zusammen mit anderen
Ordensleuten seit achtzehn Jahren zu einer Mahnwache vor der
Abschiebehaft und an jedem ersten Sonntag im Monat mit einer anderen
Gruppe von Menschen aus verschiedenen Religionen und Weltanschauungen
zum Interreligiösen Gebet auf einem zentralen Platz der Stadt ein. Mit
dieser Praxis wird für uns immer deutlicher, dass Jesus auf die Straße
gedrängt wurde und wird, wo er kein Nest, keinen Unterschlupf hat (Mt
8,20). Er lädt uns zu sich ein, hinter den Mauern unserer privaten Räume
hervor zu treten. Hier auf der Straße der Offenheit darf die Wahrheit
und das Leben unter uns und mit ihm wachsen.

Christian Herwartz

Aus: Jesuiten 1/2011 Seite 30 ff

Weitere Infos zu Strassenexerzitien unter: http://www.strassenexerzitien.de