Seit April 2013 ruft die Nachbarbloggerin immer am 5. des Monats zum Tagebuchbloggen auf unter dem Motto „WMDEDGT?“ (kurz und knackig für „Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?“). Manchmal melde ich mich auch hier im Blog zu Wort und dieses Mal habe ich wieder einiges zu erzählen.
Ich bin der Tisch von der Wohngemeinschaft Naunynstraße. Was ich schon alles gehört und erlebt habe in den mehr als 40 Jahren hier, das geht auf keine Kuhhaut hat auf keiner Tischplatte Platz. Der fünfte des Monats- ein Samstag. Wenn Samstag ist, dann geht es besonders früh los, weil Schabbat ist. Um 0.00 Uhr ist der Gottesdienst zum Schabbateingang in der Central Synagogue in New York. Wegen der Zeitverschiebung ist es dort 18.00 h.
Aber eigentlich geht es noch früher los. In der jüdischen Tradition beginnt der Tag am Vorabend mit den drei ersten Sternen am Himmel. Weil man die in der Großstadt nicht unbedingt sieht, wird im jüdischen Kalender nachgeschaut, wann die Kerzen gezündet werden – so machen es orthodoxe Juden, denn in der Schöpfungsgeschichte heißt es: „Und es ward Abend und es ward Morgen …“. Danach folgt die Angabe des Tages („dritter Tag“). Deshalb beginnt der Tag am (Vor-)Abend.
Bei uns beginnt der Schabbat, wenn die Vorbereitungen abgeschlossen sind. Das war gegen halb sieben. Alle waren um mich versammelt. Die Kerzen wurden mit einem Segensspruch angezündet. Danach wurde der Segen über den Traubensaft (Wein) und dem Schabbatbrot gesagt und ein Gebet für den Frieden in der Welt.

Schabbat-Beginn (Foto: C. Pieren)
Der Chefkoch hatte ein wunderbares Risotto mit Weißkohl vorbereitet, das allen sehr gut geschmeckt hat. Danach gab es einen bunten Obstsalat. Lange wurde der Abend nicht, denn der Samstag würde sehr intensiv werden.
I. tauchte dann kurz vor Mitternacht wegen New York auf. Die Atmosphäre in der Central Synagogue war im Vergleich zu sonst sehr gedämpft – wegen dem Krieg in der Ukraine. Es gab einige sehr beeindruckende Gedichte, die die Stimmung aufnahmen und unterschiedliche Emotionen was den Krieg betrifft zum Ausdruck brachten.
Für das offene Samstagsfrühstück stand schon ein Stapel Teller auf mir. Einer, der spät nach Hause kam – ich verrate nicht WER – hat mich dann schon eingedeckt. Die Vorbereitungen für das Frühstück liefen eher still ab: Brötchen, Käse, Marmeladen, Wurst, Quarkspeise und Getränke (Kaffee und Tee) wurden auf den Tisch gestellt. Auch die Gäste würden etwas mitbringen.

Wer wohl kommen würde zu diesem besonderen Frühstück zwei Tage vor der Beerdigung von Christian, der vor mehr als vierzig Jahren mit Michael die Gemeinschaft ins Leben gerufen hat. Ich kenne ihn am längsten von allen. Ich war schon am ersten Standort in der Sorauer Straße dabei bevor es in die Naunynstraße ging. Zwei Frauen kamen zum ersten Mal, zwei habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Menschen, die Christian aus unterschiedlichen Lebensbereichen kannten, waren da und erzähl) ten aus der Herkunftsfamiilie, vom Eintritt in den Jesuitenorden, vom Leben als Arbeiterpriester in Frankreich und später in Berlin bei Siemens als Dreher, von der Gastfreundschaft und der Wohngemeinschaft als offenen Ort, vom monatlichen interreligiösen Friedensgebet auf dem Gendarmenmarkt, das nach den Anschlägen in New York begonnen wurde, von Gefängnisbesuchen und den Mahnwachen vor dem Abschiebegefängnis, das inzwischen „Flughafengewahrsam“ heißt. Auch die gegenwärtige politische Lage wurde in den Blick genommen – nah (Corona und die gesellschaftlichen Spaltungen) und fern (der Krieg in der Ukraine) …
Zum Abschluß hat unser Freund Roj, der für verstorbene Hindus priesterliche Dienste ausübt, wieder sein Segensgebet in Sanskrit gesungen. Man kann es hier nachhören.
Als der Tisch abgeräumt und alles aufgeräumt war, wurden im kleinen Kreis noch letzte Details für das Requiem am Montag besprochen. Dann waren alle unterwegs oder haben sich ausgeruht. Zwei sind zur Tafel gegangen um Lebensmittel für die Gemeinschaft zu holen. Es gab viel Obst und Gemüse.
Am späten Nachmittag begannen die Vorbereitungen für ein besonderes Abendessen – ein Abschiedsessen für die kleinen Schwestern Jesu, die Berlin in zwei Wochen verlassen werden. Sie gehören seit den Anfängen der Wohngemeinschaft zu unseren. Freunden. Als Christian und Michael 1979 nach Berlin kamen, wohnten die Schwestern unter sehr einfachen Bedingungen im Wedding in der Liebenwalder Straße. Sie hießen Christian und Michael willkommen, die zwei Straßen weiter in einem Arbeiterwohnheim ihren ersten Ort gefunden hatten bevor es nach Kreuzberg ging. Christian hat oft von den Anfängen dieser Freundschaft erzählt. Die Schwestern verdienten halbtags durch einfache Arbeiten ihren Lebensunterhalt in der Großküche, in der Fabrik oder im Reinigungsgewerbe. Sie lebten ein einfaches Leben – zuletzt im Bauwagen und gehen an Orte, an denen Menschen leben, die in unserer Gesellschaft am Rand sind und oft übersehen werden. Mit vielen haben sie im Lauf der Jahre Freundschaft geschlossen. In den letzten Wochen bei den Abschiedsbesuchen sind viele Tränen geflossen.
An diesem Abend wurde noch ein letztes Mal miteinander gegessen (Gemüsereis, Panier-Käse und eine Sauce mit Blumenkohl, Champignons auf Mango-Kokos-Basis), erzählt, gesungen und für den Frieden gebetet. Am übernächsten Sonntag wird es dann vor Sankt Michael Kreuzberg ein Abschiedsfest geben.
Die anderen Beiträge vom #Wmdedgt im März 2022 sind hier
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