Am 5. des Monats ruft die Nachbarbloggerin immer zum Tagebuchbloggen auf unter dem Motto „WMDEDGT?“ (kurz und knackig für „Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?“). Manchmal melde ich mich auch hier im Blog zu Wort und dieses Mal habe ich wieder einiges zu erzählen.
Ich bin der Tisch von der Wohngemeinschaft Naunynstraße mitten in Kreuzberg im ehemaligen SO 36. Ich stehe hier mitten im Wohnzimmer seit 38 Jahren und habe schon viele kommen und gehen sehen. Zur Zeit steht neben mir ein kleiner Kollege, auf dem ein Bild von Christian mit Blumen und Kerzen steht. Christian hat die WG mit Michael und Peter 1979 in der Sorauer Straße – auch in Kreuzberg – begonnen. Da war ich auch schon dabei und bin 1984 dann mit umgezogen. Christian ist Ende Februar gestorben. Und sein Tod beschäftigt alle hier sehr.

Christian Herwartz im Herbst 2021
Hier sieht man Christian in Kladow, im Garten des Seniorenheims der Jesuiten. Dorthin mußten wegen Corona die Jesuiten der Altersgruppe 70plus. Es ist das letzte Foto, das wir von ihm haben.
Zur Zeit wohnen nur zehn Leute um mich herum. Seit letzter Woche findet das Frühstück wieder um 8.00 h statt, zu dem alle kommen, die nicht unterwegs in der Arbeit oder bei anderen Terminen (Ämter, Jobcenter …) sind. Jobcenter findet ja im Moment auch online statt.
Beim Frühstück waren zwei Menschen aus der Nachbarschaft dabei, die öfter dazu kommen. Es gibt immer interessante Gesprächsthemen. Die beiden Gäste sind politisch sehr interessiert und einer seit Jahrzehnten in der Kommunalpolitik in Kreuzberg aktiv. Da gibt es dann immer interessante Neuigkeiten. Morgen, am Mittwoch, wir der Maria-von-Maltzan-Platz in unserer Nachbarschaft eingeweiht. Maria von Maltzan war während der Zeit des Nationalsozialsozialismus in einerA Widerstandsgruppe aktiv und hat Juden in ihrer Wilmersdorfer Wohnung versteckt und versteckten Juden geholfen. Später war sie als Zirkustierärztin unterwegs. Am Ende der Naunynstraße ist ein Rondell, das nach ihr benannt wird. Dort hatte sie ab 1984 eine Tierarztpraxis, in der sie die Tiere von Punkern und armen Leuten umsonst behandelt hat.
Außerdem wurde noch von Mabels Besuch am Montag erzählt. Sie hat mit ihrer Mitschwester Margit hier ein neun Monate gelebt. Es war eine Art Schwangerschaft. Danach haben sie die Berliner Beratungsstelle von Solwodi gegründet. Dort bekommen Frauen, die von Menschenhandel und Zwangsprostitution betroffen sind, Hilfe. Bei uns haben auch schon welche gewohnt, wenn in der Zufluchtswohnung von Solwodi kein Platz mehr war. Unser Ex-Mitbewohner Rockn Rolf hat auf mir die Karrikaturen zur Illustration der Solwodi-Website gezeichnet, die hier zu sehen sind. Mabel hat hier von ihren Erinnerungen an die Zeit in der WG erzählt. Für die Gedenkwand hat sie uns ein Foto von Margit mitgebracht, die vor zwei Jahren verstorben ist.
Ein Besuch hat von der Angst erzählt, durch die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise nicht mehr mit dem Geld von der Grundsicherung auszukommen.
Um die Mittagszeit war es dann recht ruhig hier – abgesehen von einigen Frühjahrsputzaktivitäten – bis dann am Nachmittag der Chefkoch von der Arbeit nach Hause kam. Ein Mitbewohner hatte schon einige Packungen Champignons, die wir von der Tafel bekommen haben, vorbereitet. Sie wurden zu einer Pizza für unseren Gemeinschaftsabend vorbereitet, der jeden Dienstag stattfindet.
Um 18.00 Uhr treffen wir uns immer zum Abendessen. Zwei waren nicht da, weil sie gerade an Straßenexerzitien teilnehmen. Nach dem Essen sitzen wir immer zusammen und erzählen, was uns bewegt: Was uns freut, was uns beschäftigt, was schwer ist.
Einer hat eine Ausbildung zum Lokführer begonnen und muß sich in eine neue Tagesstruktur hineinfinden. Ein anderer hofft, daß er endlich in den Sprachkurs einsteigen kann, für den er im März 2020 eine Zusage hatte, der aber wegen dem Lockdown ausgefallen ist. Ein anderer beschäftigt sich mit einer längeren Perspektive für seine Zukunftsplanung …
Danach machen wir eine Viertelstunde Pause und dann treffen sich die BewohnerINNEN, die miteinander singen, meditieren, beten, Texte aus heiligen Schriften hören und sich darüber austauschen wollen – eine Form von Gottesdienst, zu dem jeder etwas beitragen und mitbringen kann. Danach wird es ruhig hier im Wohnzimmer.
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