EINFACH OHNE … Äußerlichkeiten und Scheinheiligkeit

Wohnzimmerlampe (neu) Dezember 2017

Will man das Wesen der Naunynstraße kennen lernen, darf man sich von
Äußerlichkeiten nicht abschrecken lassen. Die gesamte Wohnung schreit
nach einer Renovierung. Besonders hässlich ist die Wohnzimmerlampe, die aller-
dings auch aufgrund ihrer atemberaubenden Scheußlichkeit Kultcharakter hat. Ich habe ein besseres Verhältnis zu ihr als ich erfuhr, daß sie aus einem Unterhemd von Franz gebastelt wurde.
Die Küchendecke ziert ein verstaubter Ährenstrauß und die Wände, an denen die
Farbe nicht mehr erkennbar ist, sind mit Photos und Gemälden dekoriert. Irgend-
wann fing ich an, nachzufragen, was die Kunstwerke ausdrücken und wer sie
gemacht hat. Daraufhin bekam ich viele rührende Geschichten erzählt und ich
erhielt einen tiefen Einblick in die dreißigjährige Naunynstraßengeschichte.
Um den Rahmen nicht zu sprengen und um nicht das Thema zu verfehlen, erzähle ich die gehörten Geschichten jetzt nicht. Das kann Christian selber besser und hat es bestimmt bereits.
Es wirkt noch immer sehr befremdlich auf mich, dass auf Ordnung und Sauber-
keit und eine gewisse Struktur überhaupt kein Wert gelegt wird, aber so lang-
sam begreife ich, dass diese provokante Nachlässigkeit zum Wesen dieser WG
dazu gehört. Wie der große Tisch im Aufenthaltsraum treffend symbolisiert, ste-
hen eben die gerade anwesenden Menschen im Mittelpunkt und alle Kraft und
Energie fließt in den Austausch miteinander oder das Kümmern um Hilfesuchen-
de. Da bleibt das Putzen eben außen vor. Die Strukturlosigkeit begünstigt dies
allerdings auch, denn es gibt keinen Putzplan und eben für Hilfesuchende we-
der ein Aufnahmegespräch noch irgendeinen Vertrag oder Hilfeplan. An meiner
Wortwahl lässt sich ableiten, dass ich Sozialpädagogin bin. Allerdings versuche
ich meine fachliche Professionalität in der Naunynstraße mehr und mehr außen
vor zu lassen, weil sie zum einen nicht in die Naunystraße passt und ich zum
anderen nur am Samstag als Gast auftauche.
Beeindruckend finde ich Christians Unkompliziertheit. Wer da ist, oder regelmä-
ßig kommt, gehört einfach dazu, ohne dass der Status irgendwie definiert wer-
den muss. Sucht jemand eine Übernachtungsmöglichkeit und es ist ein Bett frei,
so kann der/die Betreffende bleiben. Er sieht sich als Freund und Unterstützer
und nicht als kontrollierender Organisator.
In der Naunynstraße wird eben die bange Frage „Was denken die anderen?“
komplett ignoriert. Auf Äußerlichkeiten, Normen, gesellschaftliche Pflichten
und Konventionen wird radikal und entschieden verzichtet. Dies ist ein krasser
Gegenentwurf zu meinem sonstigen Leben. So lasse ich aus Prinzip niemanden in meine Wohnung, wenn ich nicht aufgeräumt habe, während Christian seinen Gästen sogar in Unterhose die Tür öffnet. Er kam direkt aus dem Bett und befürchtete, dass sonst niemand die Tür aufmacht. Mit einem Priester in Unterhose vermochte ich nicht umzugehen. Schließlich kenne ich Geistliche nur ordentlich angezogen und das soll eigentlich auch so bleiben. Also suchte ich nach langer Zeit das Gespräch, indem er mir sein Verhalten erklärte und mich fragte,
ob ich nicht ebenso handeln würde. Diese Frage beantworte ich noch immer mit einem entschiedenen NEIN.
.Ich zögerte lange, einen Text für die Naunynstraße zu schreiben, weil ich mich
noch nie damit auseinandergesetzt habe, warum ich meine Samstagvormittage
in der Regel dort verbringe. Während ich in meiner unordentlichen Wohnung
sitze und tippe, wird mir klar, dass ich es nicht nur tue, weil man dort anregende
Gespräche führen und nette Menschen treffen kann. Nein, mir wurde jetzt beim
Schreiben bewusst, dass es eben dieser radikale Verzicht auf Äußerlichkeiten
und gesellschaftliche Normen sind, die mich anziehen und die mich auch äu-
ßerst provozieren. Mit Äußerlichkeiten ist jetzt nicht nur die Wohnungseinrich-
tung gemeint. Schließlich ist dies auch Geschmackssache und als Gast  steht mir
die Kritik auch nicht zu. Nein, es ist der Umgang miteinander, die unkomplizier-
te Selbstbedienung und dass auch auf gutes Benehmen nicht geachtet wird. Al-
lerdings gehen alle in der Regel sehr respektvoll miteinander um, aber niemand
muss seine Gefühle verstecken. Wer sich ärgert, darf das sagen, und zurechtge-
wiesen wird man nur, wenn man bei einer Erzählung für alle quasselt. Da jede/r
so sein darf, wie er/sie nun mal ist, wird „Willkommenskultur“ und unbedingte
Wertschätzung einfach und unkompliziert gelebt, und zwar ohne dass dafür ein
Konzept entwickelt wurde. Nein es wird einfach das Leben geteilt. Dabei kommt
es selbstverständlich auch zu Konflikten, die ich zwar registriere und bei Bedarf
meine Meinung äußere, aus denen ich mich aber in der Regel raushalte.
Es ist eben sehr menschlich in dieser WG mit allem was dazugehört und niemand
spielt frommes Theater oder wahrt den Schein. Diese radikale Natürlichkeit und
Einfachheit beeindrucken mich zutiefst und inspirieren mich auch 5 . Trotzdem
könnte man den Ährenstrauß meiner Meinung nach mal entsorgen und über
eine neue Lampe zumindest einmal nachdenken.
Silvia Weber
aus dem EINFACH-OHNE-BUCH, S. 65 ff

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