Schutzraum voller Herzlichkeit …

…  ist der Artikel von Andrea von Fournier überschrieben, den der „Tag des Herrn“ in seiner Ausgabe vom 14. Mai 2023 über unsere WG veröffentlicht hat:

Geschenk eines ehemaligen Mitbewohners: Seidenmalerei Synagoge – Kirche – Moschee im Flur der WG

Hier finden Ausgegrenzte, Verfolgte, Flüchtlinge und Menschen in Not einen Ort der Geborgenheit: Die Berliner Wohngemeinschaft Naunynstraße wurde vor 40 Jahren von drei Jesuiten gegründet.

Mitten im dicht bebauten, turbulenten und multikulturellen Stadtteil Berlin-Kreuzberg, unweit des U-Bahnhofs Kottbuser Tor, liegt die Naunynstraße. Die Wohnquartiere sind nicht nur optisch gemischt, es gibt sanierte, schicke Altbauwohnungen, Lückenbauten neueren Datums und einfache Wohnungen in jahrzehntelang kaum renovierten Häusern. Hier befindet sich hinter einer bunt bemalten Eingangstür, auf deren Klingelschild „WG Herwartz“ steht, eine besondere Wohngemeinschaft (WG). Die Wohnungstür ist bereits angelehnt, niemand steht dort, doch von innen dringen Gesprächsund Lachfetzen. Gleich links in der Küche kochen zwei fleißige Frauen Eier und füllen Kaffee um. „Hallo, wir duzen uns hier alle!“, stellt sich Iris*, die Leiterin der WG, vor. Sie wechselt mit Marga und Selda ein paar Worte, teilt mit, wie viele Gäste inzwischen im Wohnzimmer am Tisch sitzen, damit Kaffee- oder Teenachschub geplant werden können.

Seit 40 Jahren gibt es das Angebot „Offenes Samstagsfrühstück“ in der Naunynstraße 60. Nie wissen die Bewohner und Helfer der WG, wie viele Mitbewohner, Freunde, Leute aus der Nachbarschaft, Menschen von der Straße, Bekannte und Unbekannte, diesmal am langen Tisch im Wohnzimmer essen und trinken, reden, lachen, singen oder weinen werden. Rechnet man mit zirka 2000 Treffen in den letzten Jahrzehnten, haben die „Naunyns“ inzwischen eine Kleinstadt in ihren bescheidenen Wänden empfangen. „Das Samstagsfrühstück ist eine feste Einrichtung und uns ganz wichtig“, erklärt Iris, die seit 2015 in der WG lebt und 2016 deren Leitung übernahm.

„Gottesdienst am Küchentisch“

Die Gründungsväter der Wohngemeinschaft waren Christian Herwartz († 2022), Franz Keller († 2014) und Michael Walzer († 1986). Die drei Jesuiten nahmen 1978 im damals noch geteilten Berlin Arbeit als Lagerarbeiter, Dreher oder Küchenhilfe auf und gründeten etwas später die WG. „Mitten in dem vom Abriss bedrohten Kreuzberg, zwischen Menschen, die vor allem aus der Türkei, aber auch aus vielen andern Ländern kamen, gründeten wir eine Kommunität, die im Laufe ihrer Geschichte viele Menschen angezogen hat. Regelmäßig tauschten sie sich über ihren Alltag, die Arbeit und die Kontakte im Stadtteil aus und feierten anschließend miteinander ‚Gottesdienst am Küchentisch‘. Später kamen Menschen aus dem Gefängnis oder auf der Flucht aus dem Ausland in die Kommunität. Sie brachten ihre Verzweiflung, ihre Krankheiten und Süchte mit…“, beschrieb Christian Herwartz die Situation.

Aus der Arbeit der drei Ordensmänner, ihren täglichen Begegnungen auf der Straße, den Erfahrungen eines weiteren jungen Jesuiten, der mit in die WG zog, erwuchsen neue Aktivitäten, manche temporär, manche bis heute praktiziert: beispielsweise die bis zur Pandemie gehaltenen Mahnwachen vor der Abschiebehaft, die „Exerzitien auf der Straße“ oder das „Offene Samstagsfrühstück“.

Wie vor 40 Jahren stehen in den Zimmern der inzwischen drei Wohnungen mehrere Betten. Die Bewohner wechseln, zehn und oder mehr Menschen leben hier. Die WG versteht sich als Schutzraum, Zuflucht für Menschen, die unterschiedliche Sorgen und Nöte haben, Bedrohung, Abschiebung und Verfolgung befürchten oder aus anderen Gründen einen sicheren Ort brauchen: einen warmen Raum, ein Bett und etwas zu essen.

Kurzzeitig stand das Weiterbestehen der Wohngemeinschaft, die der Jesuitenorden in Berlin von Anfang an unterstützte und finanzierte, auf der Kippe. „Ein Glück, dass sie weiterhin für unsere Miete aufkommen“, sagt Iris erleichtert. Die laufenden Kosten tragen Freunde, Spender und die Bewohner aus unterschiedlichen Quellen selbst, jeder wie er kann.

Bunte Mischung am Frühstückstisch

Für das Frühstück lässt mancher Geld da, andere bringen Naturalien mit. Letzteres ist gewollt, schließlich wird das Essen geteilt. Aber nicht nur der Tisch ist heute, wie immer, bunt gedeckt – auch die Teilnehmer sind eine bunte Mischung: Iris entschuldigt Roy. Ihn lernten die WG-Bewohner durch das interreligiöse Friedensgebet, dessen Mitinitiator er ist, kennen. Seitdem ist er Freund und Begleiter, geht in der Naunynstraße ein und aus, doch heute ist das hinduistische Neujahrsfest. Das feiert der über 80-Jährige mit anderen Hindus. Jens aus Leipzig wird angekündigt. Er schaut vierteljährlich vorbei und will unbedingt noch den Osterbrunnen sehen, den die WG gestaltet hat. Sarah lebt seit 35 Jahren in der Nachbarschaft und gehört seit 2005 zu den Frühstücksbesuchern. Die meisten kennen sie, die aus ihrem Werdegang keinen Hehl macht: „Ich kenne die Uni und die Straße, ich habe ganz oben und ganz unten gelebt.“ Stephanus diskutiert mit seiner Nachbarin. Der Berliner hat eine Familie und eine Wohnung, doch nun lebt er für zwei Wochen mit den Menschen in der WG. „Weil ich das schon immer wollte!“, erklärt der Architekt. Diese Art des Zusammenlebens sei für ihn gelebte Utopie, die er von Christian Herwartz kennt und schätzt. Er hat auch Faten mitgebracht, die spontan beim Aufhängen der Ostereier geholfen hat und sich in diesem Kreis gut fühlt.

Marga und Selda leben zurzeit in den Zimmern der WG. Diese sind einfach eingerichtet. Mancher kommt nur mit dem, was er am Leib trägt. Zum Glück gebe es Kontakte zu einer Kleiderkammer, wo man für diese Mitbewohner auch „ohne Schein einer Behörde“ etwas zum Anziehen bekommen könne. Wer warum oder wie lange bleibt? „Wir fragen hier nicht viel, nur das Notwendigste“, erklärt Iris. So könnten die Neuen in Ruhe und Freiheit selbst entscheiden, was sie von sich preisgeben wollen. Gastfreundschaft, Geschwisterlichkeit, sich gegenseitig zu begleiten, sei das Wichtigste.

Im Lauf der Jahre sah sich die Leiterin häufig handfesten Problemen gegenüber. Egal, ob es Sorgen mit den Bewohnern gebe, die Polizei vor der Tür stehe, jemand dringend ärztliche Hilfe brauche und nicht versichert sei oder eine alte Sucht erneut aufbreche. Sie musste entscheiden, was zu tun ist und das manchmal sofort. Diese Aufgabe nimmt sie bis heute ernst und füllt sie aus.

Vielfalt der WG wird im Internet dokumentiert

Jedem WG-Bewohner steht es frei, seine religiöse Praxis einzubringen. Feiern des Schabbats gibt es hier genauso wie Gottesdienste oder das muslimische Fastenbrechen. Iris ist immer wieder aufs Neue begeistert vom unglaublichen Reichtum an Kulturen, Sprachen, Erfahrungen und Spiritualität in der WG. Ständig begleitet sie deren Alltag mit einen umfangreichen Blog (Internet- Tagebuch), damit aktuelle Aktionen bekannt gemacht und um Unterstützer und Unterstützung geworben werden könne.

Dass es Menschen in dieser Zelle der Gastfreundschaft und Mitmenschlichkeit gut gehabt haben, beweisen manchmal Geschenke, die sie, oft später, machen. Ein Beispiel dafür ist ein Kunstwerk im Flur, auf dem die Weltreligionen friedlich in einem großen Haus nebeneinander dargestellt sind – ganz so wie in der Wohngemeinschaft Naunynstraße.

Geschenk eines ehemaligen Mitbewohners: Seidenmalerei Synagoge – Kirche – Moschee im Flur der WG

Erinnerung ohne Foto (7): Demo – Polizeigewalt – Haft

Am 1. Mai hat Christian regelmäßig an der Demo, die von der Gewerkschaft organisiert wurde, teilgenommen. Auch ansonsten war er als Arbeiter in der Gewerkschaft organisiert. Er war Vertrauensmann bei der IG Metall und hat immer wieder von einer Demo  im Sommer 1997 erzählt, bei der ein türkischer Kollege von Polizeigewalt betroffen war. Er hat deutlich gemacht, daß er damit nicht einverstanden ist und eine Anzeige von der Polizei kassiert. Weil sein Anwalt nicht rechtzeitig Widerspruch einlegte – Christian selbst war im Urlaub, kam es zu einer Verurteilung und einer 10tägigen Haftstrafe, die er in Berlin-Plötzensee verbüßte. Den genauen Hergang und die Erfahrungen im Gefängnis kann man / frau auf der nackte-Sohlen-Seite von Christian hier nachlesen. Aus naheliegenden Gründen gibt es davon keine Foto. Auch die taz hat darüber geschrieben: Vertrauensmann der IG Metall im Knast. Ein Foto von der Haftanstalt Plötzensee gibt es auf Wikipedia.

Weitere Erinnerungsfotos von und über Christian sind alle gesammelt hier:

und einzeln dort:
Karfreitag vor dem Abschiebegefängnis
Erzählcafe im Wedding
interreligiöses Friedensgebet am Gendarmenmarkt
Kinderbesuch in Kladow
Im Garten vom Peter-Faber-Haus
Gespräche am Jakobsbrunnen beim evangelischen Kirchentag in Berlin

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2023: Neujahrsgruß mit Bild von Christian

Zwischen den Jahren hatten wir einen ganz besonderen Besuch. Elisabeth, die seit fast sieben Jahren in Kevelaer lebt, kam nach Berlin. In ihrer Berliner Zeit war sie sehr oft in der Wohngemeinschaft. Sie hat uns mit diesem Bild überrascht, von dessen Existenz wir nichts wußten.

Weihnachtsüberraschung: Bild von Christian

Elisabeth war im Spätherbst letzten Jahres in Kladow. Christian wußte schon, daß er bald sterben würde. Er hat das Bild kurz vorher im Krankenhaus gemalt, es Elisabeth gegeben und sie gebeten, zu uns in die Naunynstraße zu gehen.

Wir haben uns sehr darüber gefreut. Noch ein Bewohner lebt hier – der Chefkoch -, der Elisabeth noch von früher kannte. Für uns andere war es eine neue Begegnung. Es waren erfüllte Tage, an denen wir reich beschenkt wurden. Wie schön, daß wir an frühere Zeiten anknüpfen konnten.

Wir wünschen Euch allen Gutes, Zuversicht und Gesundheit. Möge das Neue Jahr der Welt Frieden schenken. Seid gesegnet.

Nachtrag:

Christian hat kurz vor seinem Tod das folgende Gebet geschrieben, an das ich denken mußte als ich das Bild sah:

DANKE
Du Tod, Sprung ins Leben
Du kündigst dich an
Du bist die abschließende Freude
Ich danke Dir für Dein Kommen
Amen Christian

Pour les pretres ouvriers francais qui nous suivent ici:

Une priere que Christian a ecrit quelques semaines avant sa mort:

MERCI
Toi la mort, saut vers la vie
Tu t’annonces
Tu es la joie finale
Je te remercie pour ta venue
Amen. Christian

Zum Weiterlesen:
Erinnerungen an Christian Herwartz
Elisabeth schreibt über ihren Besuch bei uns im Gästebuch  (bitte nach unten durchscrollen)

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Sankt Martin oder von der Gleichwürdigkeit aller Menschen

Große Aufregung, weil eine eMail von einem Freund unserer Gemeinschaft kam, er sei in Antalya gestrandet, bestohlen worden: Kein Geld, keine Papiere – alles weg. Die deutsche Botschaft habe Ersatzpapiere ausgestellt, aber Flug und Hotelrechnung müssen bezahlt werden – insgesamt fast 1000 Euro. Wie kann das sein? Vorgestern hat er aus dem Krankenhaus angerufen. Sein eMail-Account wurde geknackt … Ganz vergessen, daß er heute Namenstag hat.

Dieses Jahr gibt es wieder einen Martinsumzug, das Martinsspiel vor der neuen St. Michaelskirche in Kreuzberg mit anschließendem Kinderpunsch und Gebäck zum miteinander Teilen. Heute vormittag wurde schon die Bühne vor der Kirche aufgebaut.

Gestern Abend haben wir den Text von Christian Herwartz aus dem Buch „Männer Gottes“ gelesen, der immer wieder auf neue Facetten von Martin von Tours aufmerksam macht. Im Zentrum steht die Gleichwürdigkeit aller Menschen: 

Martin von Tours: Engagiert die Gleichheit mit dem Nächsten leben“. Der Text ist für ein Buch über Männerspiritualität entstanden. Christian hat ihn auf sein Blog gestellt und zwar hier

„Als Einsiedler führte Martin ein asketisches Leben der Reinigung. Einige Brüder schlossen sich seiner Lebensweise an. Es entstand eine Gemeinschaft. Martin wurde Abt des entstehenden Klosters Marmoutier und damit zur einem Pionier des gallischen Mönchtums. Das Volk in Tours entdeckte ihn. Sie spürten seine königlichen Leitungsfähigkeiten, mit denen er aus einer inneren Klarheit heraus Entscheidungen fällte und sich der Sorgen seiner Mitmenschen annahm. Auch als Bischof lebte Martin in einer Einsiedelei und blieb seiner monastischen Berufung treu. Seine Neigung zum kontemplativen Leben und die Demut eines Mönches halfen ihm bei seinen pastoralen Verpflichtungen. Dabei lag ihm besonders die Heilung der Kranken am Herzen, wie Sulpicius Servus immer wieder erzählt.“

Anmerkung von Wolfram:
Ich möchte anmerken, daß es sich nicht um Marmoutier im Elsaß handelt, dessen ehemalige Klosterkirche heute Pfarrkirche St. Martin ist, sondern um Marmoutier in Sainte-Radegonde-en-Touraine, auf dem linken Loire-Ufer der Stadt Tours gegenüber gelegen, zu der es durch Eingemeindung seit 1964 gehört.
Die können einen mit der Namensgleichheit aber auch verwirren!

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Einladung: Allerheiligen – Gräbersegnung

In den letzten Jahren hat sich in der Wohngemeinschaft die Tradition entwickelt, daß diejenigen von uns, die Zeit haben und auch Freunde der WG die Gräber der Jesuiten besuchen, mit denen wir eng verbunden sind: Michael Walzer, Franz Keller, Johannes Siebner und Christian Herwartz. Christian haben wir noch im letzten Jahr dort getroffen.
 
Dieses Jahr können wir das Totengedenken wieder zusammen mit Jesuiten aus den Berliner Kommunitäten begehen und zwar am
 
1. November 2022 um 15.30 h
auf dem St. Hedwigskirchhof III
Ollenhauer Straße 24 (Reinickendorf – Nähe Kurt-Schumacher-Platz)
 
Um 18.30 h findet dann in St. Canisius/Witzlebenstraße ein Allerheiligengottesdienst statt
 
Zum Weiterlesen:
Erinnerungen an Christian Herwartz (auch Beiträge von BlogleserINNEn)

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#wmdedgT Oktober 2022: Durchmischtes

Am 5. des Monats ruft die Nachbarbloggerin immer zum Tagebuchbloggen auf unter dem Motto „WMDEDGT?“ (kurz und knackig für „Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?“). Manchmal melde ich mich auch hier im Blog zu Wort und dieses Mal habe ich einiges zu erzählen.

Ich bin der Tisch von der Wohngemeinschaft Naunynstraße mitten in Kreuzberg  im ehemaligen SO 36. 

Der Tag begann ganz gemächlich mit einem Frühstück in kleiner Runde um 8.00 Uhr. Eines der Themen war das Kunst- und Kulturfestival auf dem Oranienplatz in unserer Nachbarschaft vom 5. bis 8. Oktober. Am Donnerstag wird Angela Davis kommen und eine Rede halten. Einige von der WG wollen hingehen. Auf der Website heißt es:

O-Platz wird 10 – Baustelle Migration

Vor 10 Jahren wurde der Oranienplatz und die Gerhart-Hauptmann-Schule von einer Geflüchteten-Bewegung besetzt. Wir, International Women* Space, haben uns aus dieser Bewegung gegründet und wollen das gemeinsam mit euch feiern! Denn ihr seid wichtiger Bestandteil dieser Bewegung und habt großen Anteil, dass Aktivistinnen, Geflüchteten, Migrantinnen, Gruppen und Einzelpersonen gemeinsam Widerstand leisten konnten. Wir wollen erneut alte Mitstreiter*innen zusammenbringen und neue Menschen mobilisieren, um uns gemeinsam an die Kämpfe geflüchteter Personen zu erinnern und unser Bestehen zu zelebrieren. Um reale Veränderung herbeizuführen, benötigt es zudem Zukunftsperspektiven, denen wir kollektivistisch nachgehen werden.

 

Mit dem Überfall auf die Ukraine kamen hunderttausende Menschen nach Deutschland und wir konnten sehen: Es ist sehr wohl möglich, mühsame bürokratische Prozesse zu umgehen und Menschen den Schutz anzubieten, den sie brauchen. Wir wissen aber auch, dass dieser Schutz nicht allen Geflüchteten eingeräumt wird. Umso wichtiger ist es, am 10-jährigen Jubiläum der Besetzung des O-Platzes daran zu erinnern, dass der daraus entstandene Widerstand immer noch lebt und weiterhin in die Öffentlichkeit getragen werden muss!

Auf der Verkehrsinsel des Oranienplatzes steht ein Riesenplakat: „Stoppt Deportation“. Als ich das hörte, wurde ich an, Christian erinnert, den Gründer der WG, der vor Corona jedes Jahr am 3. Oktober und am Karfreitag eine Mahnwache vor dem Abschiebegefängis mit den „Ordensleuten gegen Ausgrenzung“ und anderen Interessierten und Aktivisten organisiert hat – erst in Grünau, dann wurde der Abschiebeknast zum Flughafen Schönefeld verlegt. Dort wollten die Betreiber (das Land Berlin, das Land Brandenburg und der Bund) die Mahnwache verbieten mit der Begründung, das sei Privatgelände. Christian hat sich durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht durchgeklagt und dort Recht bekommen. Das Gelände vor dem Abschiebegefängnis ist kein Privatgelände, sondern öffentlicher Raum. Heute heißt das nicht mehr „Abschiebegefängnis“. Die neue Sprachregelung lautet „Flughafengewahrsam„.

Nach dem Frühstück ist ein Bewohner losgegangen und hat viel von dem Brot, das wir gestern wieder von der Bäckerei bekommen haben, zum Mittwochscafe von St. Marien-Liebfrauen gebracht. Dort bereiten Ehrenamtliche belegte Brote, Kuchen und Obstsalat vor. Inzwischen dürfen die BesucherINNEN wieder in den Gemeindesaal und können sich dort hinsetzen, essen, trinken und miteinander ins Gespräch kommen. Hoffentlich geht das noch recht lange, denn seit Corona-Beginn durften nur noch Lebensmittelpäckchen ausgegeben werden.

In der WG haben sich am späten Vormittag noch zwei an mir zusammengefunden und ausgeblasene Eier gestaltet. Im Hof von St. Marien-Liebfrauen steht ein wunderschöner Brunnen. Der soll im nächsten Jahr ein Osterbrunnen werden, eine Tradition in Teilen von Franken. Dafür sind einige kreative Talente aktiv. Inzwischen sind schon 130 Eier in unterschiedlichen Techniken fertig. Sie müssen nur noch mit Lack fixiert werden. Hier die neusten Exemplare:

Eier für den Osterbrunnen

Mittags nach der Orgelandacht in St. Thomas kamen Susanne und Reinhard vorbei und es gab Reispfanne mit Gemüse – den Rest vom Gemeinschaftsabend gestern.

Der Nachmittag war ganz ruhig. Alle waren unterwegs. Ich konnte mal durchschnaufen Im Moment ist feiertagsmäßig ganz schön viel los. Am Sonntag war Erntedankfest, am Montag Tag der deutschen Einheit, am Dienstag Namenstag von Franz von Assisi und damit auch von einem Mitbewohner. Heute war höchster jüdischer Feiertag: Jom Kippur (Versöhnungstag) und am Sonntagabend geht es dann mit dem Laubhüttenfest weiter. Von seinen Ursprüngen her ist das Laubhüttenfest ein Erntedankfest.

Auch dieses Jahr am letzten Sonntag haben wir von der SELK-Gemeinde (selbständige evangelisch-lutherische Kirche) in unserer Nachbarschaft wieder Gaben zum Erntedank geschenkt bekommen – und auch von Sankt Michael. Alles wurde malerisch auf mir drapiert fürs Blog-Foto. Voilà:

Erntedank-Tisch 2022

Am frühen Abend kam dann noch Alain vorbei. Er hat letzten Samstag mit einem Mitbewohner die Tischplatte abgeschliffen, mit der ich immer fürs Samstagsfrühstück verlängert werde. Die muß jetzt noch eingelassen werden. Dafür wurden noch ein paar Details abgesprochen.

Danach gab es für die Anwesenden – wieder kleine Runde – einen leckeren Nudelauflauf mit Gemüse. 

Kurz vor sieben ging M. zur Bäckerei und holte dort die übrig gebliebenen Backwaren. Zwei verpackten die belegten Baguettes in kleinere Tüten und brachten sie einer Gruppe von Wohnungslosen, die sich am Oranienplatz zusammenfindet. Gegenüber, wo das Kulturfestival stattfindet, war schon ein Open Air Konzert.

Wir wunderten uns, daß unser Mitbewohner H. noch nicht zuhause war. Später sollten wir erfahren, daß er ins Krankenhaus gebracht worden ist.

Kurz nach neun Uhr brachte ein Mitbewohner die Backwaren, die für uns zu viel sind, zum Kottbuser Tor. Auf der Verkehrsinsel unter der Hochbahn gibt es immer am Mittwoch- und am Samstagabend eine Essensausgabe der Berliner Obdachlosenhilfe. Die freuen sich immer sehr, wenn wir etwas vorbeibringen. Es ist unglaublich, wieviel Brot abends in der Bäckerei übrig bleibt, weil der Anspruch besteht, daß bis kurz vor Geschäftsschluß alles verfügbar sein muß.

Zum Weiterlesen:
Laubhüttenfest in Zeiten von Corona oder von der Verletzlichkeit unseres Lebens
Von der Essensausgabe der Berliner Obdachlosenhilfe und vom Hippster-Imbiß:
Zwei Schlangen, zwei Welten und nur 80 Meter Luftlinie
Radiobeitrag (vier Minuten) beim Deutschlandradio über unser Samstagsfrühstück
Mehr Tagebuch-Bllogger-Einträge von ‚wmdedgT gibt es bei Frau Brüllen und zwar 
hier (nach unten durchscrollen)

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Strassenexerzitien in Kreuzberg

Weil gerade Exerzitien auf der Strasse (neudeutsch: Street Retreat) in Kreuzberg stattfinden, wird es in den nächsten Tagen hier voraussichtlich etwas stiller sein. Die Straßenexerzitien sind in unserer Wohngemeinschaft vor vielen Jahren entdeckt worden. 

Gottesnamen auf Hofpflaster in Berlin-Kreuzberg

Zum Weiterlesen:
Exerzitien auf der Straße
Nos villes, d’un cœur brûlant –  Les Exercices spirituels dans la rue

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Besuch auf dem Domfriedhof bei Christian Herwartz

Gerade ist eine Freundin aus der Schweiz einige Tage zu Besuch in unserer WG. Sie hat das Requiem für Christian per Live-Stream miterlebt und wollte gern sein Grab besuchen. So haben wir uns nach dem Frühstück auf den Weg nach Reinickendorf zum Dom-Friedhof III der Hedwigsgemeinde in der Ollenhauer Strasse gemacht. Dort gibt es ein Gräberfeld für Jesuiten. Dort ist Christian in der obersten Reihe rechts bestattet worden. Inzwischen wurde das provisorische Holzkreuz durch eine Grabplatte mit Namen und Lebensdaten ersetzt.

Grab Christain Herwartz Juli 2022

Mehr zu Christian Herwartz auf diesem Blog
Wenn die Tür besonders weit offen steht  – ein Beitrag im Rahmen der Morgenandacht vom Deutschlandfunk über Christian und unser Samstagsfrühstück
Leben in die Offenheit Gottes hinein (Interview)

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Wenn die Tür besonders weit offen steht …

Samstagsfrühstück: der Tisch ist gedeckt

Diese Woche ist das Rahmenthema der täglichen Morgenandacht im Deutschland-funk um 6.30 Uhr „Gemeinschaft“. Heute erzählt Jörg Machel, der über 30 Jahre Pfarrer in unserer Nachbarschaft war, von seinen Begegnungen bei unserem Samstagsfrühstück. Der Beitrag ist vier Minuten lang und kann hier gehört und gelesen werden.

Nachtrag: Heute gab es besonders viele Zugriffe auf das Weblog. Wir sind gespannt, ob am Samstag neue Frühstücksgäste kommen.

Zum Weiterlesen:
Nachruf auf Christian Herwartz von Jörg Machel: An eurer Seite: Ein Leben jenseits der Komfortzone
Mehr von den Samstagsfrühstückstreffen

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Frühstücksgespräche (21) im Mai 2022

 Im Mai haben uns bei den gemeinsamen Frühstückstreffen folgende Themen beschäftigt:

– Was ist los am 1. Mai in Kreuzberg und in Berlin
– interkulturelle und interreligiöse Begegnungstage im Graefekiez
– Antisemitische Parolen auf Maikundgebung
– Zerstörung des öffentlichen Bücherschranks am Stuttgarter Platz
– Was genau machen Schlaflabore und wie läuft das ab
– feministische Theologie und ihre Anliegen in verschiedenen Phasen
– Naturrituale im Jahreskreis
– Gewalt an Männern von Frauen ausgeübt
– Muttertag: wann in welchen Ländern und mit welchen Traditionen
– in welchen Berliner Bezirken waren oder sind viele Neonazis
– welche Privilegien hat man / frau als weißer Mensch
– Veranstaltungen zum Tag der Befreiung am 8. Mai von der
Friko, der Sophiengemeinde, der jüdischen Gemeinde- 
– unterwegs auf dem portugiesischen Jakobsweg- 
– Muttertag in verschiedenen Ländern: wann und wie wird gefeiert
– Fällt Muttertag immer mit dem Tag der Beifreiung (8. Mai) zusammen?
– weibliche Gottheiten in vorchristlichen Zeiten
– Michael Hirte und seine Mundharmonika
– Wie es mit einzelnen Ex-Mitbewohnern weiterging
– Erfahrungen in und Gedanken über Thailand
– Medizintourismus in Berlin
– Tod und Begräbnis von Inge Viett – wer weiß mehr?
– zunehmendes Bashing gegen russische Menschen
– Film über Bettina Wegener
– Sind durch „den Kommunismus“ mehr Menschen umgekommen als durch den 2. Weltkrieg?
– Zwangsverheiratung
— Kottbusser Tor in den Medien und eigene Erfahrungen
– irgendwann im Mai werden weniger als 50 % der Deutschen Mitglied in einer Kirche sein
– Lebensort Vielfalt – ein Ort für die LBGT-Community
– Mehrgenerationenhäuser für Menschen aus der LGBT-Community
– wann nehmen wir schwarze Menschen als Afrikaner und wann als Amerikaner wahr
– Rosa von Praunheim und sein künstlerisches Werk
– das Verschwinden von Gedenktafeln im öffentlichen Raum
– Eugen Drewermann in der Humboldt-Uni zur gegenwärtigen politischen Situation (Ukraine, Friedensbewegung, NATO)
– Erfahrungen in und mit der DDR: Außen- und Innensichten
– Bettina, der Film über Bettina Wegener
– warum werden DDR-Symbole toleriert und Nazisymbole nicht
– Was die Nazis von der Türkei (Genozid an den Armeniern) „gelernt“ haben
– fragwürdige Berichterstattung über Affenpocken (Panikmache)
– Führung zu jüdischem Leben für WG und ihre Freunde
– Emotionen von Demenzkranken
– Enteignungskonferenz (Deutsche Wohnen enteignen)
– Was ist die „Fokolare-Bewegung“
– Insekten essen – Essenstabus
– Polizeigewalt
– Erfahrungen mit unterschiedlichen Yoga-Schulen
– welche Zeiten wollen wir als Gemeinschaft für andere öffnen und welche brauchen wir für uns
– Chaos im Keller und dessen Beseitigung
 
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